Genitalverstümmelung: Wenn ein Teil der Selbstachtung weggeschnitten wird

Von Kevin Capellini und Mona Martin

Hören Sie lieber als Sie lesen? Diese Multimedia-Geschichte gibt es auch zusammengefasst als Podcast: Hörstoff zum Mitnehmen für unterwegs. Entweder direkt in diesem Artikel oder auf unserer Soundcloud-Seite und der Soundcloud-App.


Die Mädchen sind jung, fast noch Kinder, wenn sie an ihren Genitalien beschnitten werden. Und manchmal, da werden sie auch heimlich aus der Schweiz weggebracht, damit man sie in Somalia beschneiden kann. Die Messer und Dornen-Nadeln, die auf sie warten, sind stumpf. Und aus einem «Akt der Reinheit» wird eine Gräueltat. Die jungen Frauen leiden. Stunden. Tage. Ihr Leben lang. Was ihnen angetan wird, dient aus westlicher Sicht keinem klaren Zweck. Aber es ist schmerzhaft, erniedrigend und zutiefst verletzend – physisch wie psychisch.

Warum uns das interessieren sollte? Weil es auch hier in der Schweiz passiert – mitten unter uns.

Wir haben betroffene Frauen getroffen, uns mit verschiedenen Hilfsorganisationen in der Schweiz und mit Aktivistinnen im Ausland unterhalten. Manche Dinge, die Sie hier lesen oder hören werden, mögen Sie zu detailliert oder brutal finden. Aber es ist wichtig, dass trotzdem darüber gesprochen wird.

Denn weltweit sind über 200 Millionen Frauen davon betroffen. Jede Stunde kommen 300 weitere Mädchen dazu. In fast jedem Land auf diesem Planeten. Und etwa alle elf Sekunden wird irgendwo in einem dreckigen Hinterhof oder einem schlecht beleuchteten Zelt ein weiteres Mädchen verstümmelt – und manchmal auch irgendwo hier in der Schweiz.

Grafische Darstellung der Beschneidungsrate pro Land: Mit den +/- Knöpfen können Sie näher heran zoomen. Mit den drei Punkten am Rand der Karte können Sie die Weltkarte im Vollbildmodus betrachten (Klick auf Bildschirmsymbol). Je dunkler die Farbe, desto höher ist die Rate. Grau = keine Daten vorhanden.

Trotz all dem, ist die weibliche Genitalverstümmelung ein grosses Tabu-Thema. In der Schweiz wird nur sehr wenig darüber geredet. Dies, weil die Genitalverstümmelung hauptsächlich im Ausland geschieht. Wir alle nahmen das Thema bisher zwar als Brutalität war, zeigten jedoch kaum Interesse daran. Denn hier ist ja niemand davon betroffen. So dachte man.

Diese Wahrnehmung änderte sich erst etwas, als der Name eines 10-jährigen Mädchens plötzlich durch die Medien und die Sozialen Netzwerke ging:

Deeqa.

Verstümmelt und verblutet

1. Kapitel

Es ist Juli 2018. In einem einsamen Ort in der somalischen Wüste wird ein operativer Eingriff an einem 10-jährigen Mädchen durchgeführt. Doch handelt es sich dabei nicht um eine normale Operation. Das Mädchen wird in einem traditionellen Ritual beschnitten. Ohne Betäubung. In einer Hütte. In der Wüste. Ohne medizinische Versorgung.

Und die Operation misslingt.

Einen Tag später verstirbt das Mädchen an den Folgen einer missglückten Beschneidung. Der Vorfall und die Dramatik ihrer Geschichte erschütterten die Menschen rund um den Globus.

Deeqa Dahir Nuur wurde nicht einfach beschnitten. Sie wurde verstümmelt.

Der Eingriff wurde ohne wirkliche medizinische Ausrüstung oder Ausbildung der «Beschneiderinnen» durchgeführt. Schamlippen und die Klitoris waren komplett abgeschnitten, tiefe Schnitte zeichneten den ganzen Intimbereich des Mädchens, überall waren offene Wunden. Blut strömte ihren Beinen entlang auf den staubigen Boden.

Als die Blutungen nicht aufhören wollten, brachten die Eltern Deeqa nach der Beschneidung in ein örtliches Spital. «Das Geschlechtsorgan als solches war nicht mehr zu erkennen und auch nicht mehr vorhanden», sagte eine der Krankenpflegerinnen, die das Mädchen im Hanano Hospital in Dhuusamarreeb zu retten versuchte. Doch es gelang ihnen nicht. Deeqa verblutete am Tag nach der Beschneidung und starb.

«Unsere Ärzte vor Ort haben alles versucht, um das kleine Mädchen zu retten», erinnert sich Bashir Gobdon, der Co-Präsident der Organisation Swisso Kalmo, zu der auch das Hanano Hospital gehört. «Doch soviel die Ärzte auch versucht haben, es war bereits zu spät für das Mädchen. Dazu kommt, dass die medizinische Ausrüstung in Somalia in solchen Situationen oftmals nicht ausreicht.»

Bashir Gobdon, der Co-Präsident der Organisation Swisso Kalmo.

Bashir Gobdon, der Co-Präsident der Organisation Swisso Kalmo.

Die Familie nahm das Kind wieder mit nach Hause und beerdigte es in dem kleinen Dorf, in dem sie noch heute wohnen. Die Gegend rund Dhuusamarreeb ist trocken, staubig, einsam und gefährlich. Nachrichten aus dieser Gegend erreichen die Menschen ausserhalb nur sehr selten.

Und auch Deeqas Tod wäre in Somalia eigentlich nichts spezielles gewesen. Denn er ist nur einer von vielen Todesfällen, welche jedes Jahr durch die Beschneidung verursacht werden. Schliesslich sind in dem ostafrikanischen Land über 98 Prozent aller Frauen beschnitten – über zwei Drittel davon wurden mit der sogenannten «pharaonischen Beschneidung» vollständig verstümmelt.

Ein Staat ohne Kontrolle

Wie viele Mädchen jedes Jahr genau umkommen in Somalia, das weiss niemand. Denn der Tod bei Beschneidungen ist ein Tabu: Familien schweigen, wenn ihre Mädchen bei der Operation verbluten und sterben.

Der Staat also weiss gar nicht, wie viele Kinder jedes Jahr im Land umkommen. Und selbst wenn er es wüsste, was könnte er dagegen tun in einem Land, wo die Regierung in vielen Landesteilen gar nicht wirklich die Kontrolle hat über das, was dort passiert. Denn Somalia gilt als ein offiziell gescheiterter Staat.

«Das Geschlechtsorgan als solches war nicht mehr zu erkennen und eigentlich auch nicht mehr vorhanden.»

Doch dieses Mal, bei Deeqa, war alles etwas anders. Die somalische Journalistin und Aktivistin Ifrah Ahmed erfuhr mehr durch Zufall von einer lokalen Quelle von der Geschichte und reiste nach Dhuusamarreeb. Von der Familie sprach niemand über den Tod ihrer Tochter, beide sagten, sie fühlten sich nicht schuldig, der Tod ihrer Tochter sei die Schuld der Beschneiderinnen gewesen.

Sie selber, die Eltern, würden keine Schuld am Tod ihrer Tochter tragen, denn die Beschneidung ist in den ländlichen Gegenden tief verankert, ja Tradition.

Beschnittene Mädchen gelten als rein und jungfräulich und loyal. Und nur beschnittene Mädchen dürfen dann auch verheiratet werden. Wenn eine Frau nicht beschnitten ist, so gilt sie als «Gefahr» für das soziale Zusammenleben der Gemeinschaft, sie wird nicht respektiert, bedroht, verstossen. Ihre sexuelle Lust nach Männern gilt als unkontrollierbar.

Die Journalistin und Aktivistin Ifrah Ahmed.

Die Journalistin und Aktivistin Ifrah Ahmed.

Ifrah Ahmed fragte Deeqas Eltern, ob sie ihr nächstes Kind denn wieder beschneiden lassen würden, nachdem ihre Tochter gestorben sei. Die Antwort brachte sie aus der Fassung. «Ich war so wütend und gleichzeitig traurig», sagt sie. Denn die Antwort lautete «ja, natürlich».

Und so machte Ahmed den Fall publik. Sie produzierte eine zwölfminütige Dokumentation zu der Geschichte, verbreitete die Meldung auf Twitter. Damit ging die Nachricht vom Tod des Mädchens um die Welt, es wurde von Medienportalen und Zeitungen rund um den Globus aufgegriffen und verbreitet und kam so auch in die Schweiz, wo Radios und Zeitungen den Fall aufgriffen.

Und plötzlich war dieses Thema viel präsenter als früher. Und damit stellte sich eine zentrale Frage: Wenn somalische Mädchen in Somalia beschnitten werden, was passiert denn mit den somalischen Mädchen hier bei uns in der Schweiz?

Die Antwort ist nicht so einfach:

Genau das Gleiche? Aber nur im Geheimen?


Somalia gilt als ein gescheiterter Staat. Es gibt nur wenige Menschen, die das Land bereisen und von dort berichten. Das Kinderhilfswerk Save the Children betreibt in der Region Puntland ein Projekt und versucht dort, die Genitalverstümmelung zu bekämpfen. Wir konnten mit zwei Vertretern von Save the Children Schweiz sprechen, die im April 2019 nach Somalia reisten. Im Podcast schildern sie uns ihre Eindrücke. Mehr zur Community-Arbeit vor Ort lesen Sie dann auch im Kapitel 6.

Ein illegales Geschäft, mitten unter uns – doch niemand will etwas darüber wissen

2. Kapitel

Wenn Menschen fliehen, dann bringen sie immer auch einen Teil ihrer Kultur, ihrer Tradition und Brauchtümer mit. Und so fand auch die weibliche Genitalverstümmelung ihren Weg wieder zurück nach Europa und die Schweiz.

Denn auch hier war die Beschneidung des weiblichen Geschlechts bis etwa in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet und eine beliebte Behandlung von Hysterie oder lesbischen Neigungen. So war die Beschneidung gesellschaftlich verankert und akzeptiert.

Dies gilt noch immer in den Herkunftsländern von eingewanderten Migrantinnen und Migranten, wo die Beschneidung – auch wenn oftmals gesetzlich verboten – gesellschaftlich sehr stark verankert ist und zum Gewohnheitsrecht zählt, das zum Beispiel in Somalia eine hohe Wichtigkeit und Akzeptanz geniesst.

Anhand dieser Tatsache wird schon lange vermutet, dass die Praxis der Beschneidung auch am neuen Ort der Niederlassung praktiziert wird. Entweder hier im Verborgenen direkt in der Schweiz, oder dann im Rahmen von sogenannten «Beschneidungsferien», wenn die Familie zurück in das Heimatland reist, um die Beschneidung durchzuführen. Für beide Szenarien gibt es Hinweise, dass dies auch in der Schweiz passiert.

Beschneidungen trotz schwerer Strafen

Und dies, obwohl die weibliche Beschneidung seit 1995 als grundlegende Menschenrechtsverletzung und als Gefahr für die Gesundheit von Frauen gilt. 2011 wurde die Beschneidung in der Schweiz strafgesetzlich verboten und wird seit dann verfolgt. Tätern und Mittätern drohen bis zu 10 Jahre Gefängnis. Und dabei spielt es keine Rolle, ob die Beschneidung hier in der Schweiz oder im Ausland durchgeführt worden ist.

Anhand dieses Strafbestandes sprach 2018 ein Gericht im Kanton Neuenburg das erste Urteil zum Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien, welches 2019 vom Bundesgericht bestätigt wurde. Doch danach wurde es ruhig. Es kam kaum zu weiteren Verurteilungen oder Anzeigen.

Obwohl die Beschneidung verboten ist, gehört sie noch immer zur traurigen Tagesordnung.

Obwohl die Beschneidung verboten ist, gehört sie noch immer zur traurigen Tagesordnung.

Etwa weil die Beschneidungen durch das gesetzliche Verbot nun nicht mehr praktiziert werden? Bei dieser Frage werden das Bild und die Wahrnehmung verschwommen. Einerseits gibt es Zahlen, die belegen, dass die Genitalverstümmelung auch in Europa stattfindet und Organisationen, die bestätigen, dass die Verstümmelung in Europa ein mittlerweile grosses Problem ist.

Andererseits sind da die Reaktionen von Personen und Vereinen, die wir im Rahmen unserer Recherche dazu kontaktiert haben, welche teilweise abgewunken und die Thematik verharmlost haben. Manchmal erhielten wir auch gar keine Antwort. Und oft kam als Antwort, dass das vielleicht noch in Afrika passiere, aber ganz bestimmt nicht hier in Europa. Denn es sei ja illegal, es gebe ja ein Gesetz dagegen.

Die Zahl der Betroffenen steigt

Ein Gesetz dagegen gibt es sehr wohl. Doch dieses reiche eben nicht aus, um die Genitalverstümmelung zu unterbinden, meint etwa Nadia Bisang, Projektverantwortliche bei der Caritas. Wie sie in einem Interview gegenüber Radio SRF sagte, brauche es mehr als nur den Gesetzesartikel. Denn die Beschneidung findet oft im Stillen statt, niemand weiss wirklich, wann es passiert – und schon gar nicht der Staat.

Daher gibt es auch keine einheitlichen Zahlen und Daten zur Situation in der Schweiz. Wie viele solche Beschneidungen hierzulande durchgeführt werden, weiss man nicht. Aber es ist bekannt, dass Ärzte manchmal angefragt werden, wo man einen solchen Eingriff vornehmen lassen könne.

Die Kesb erhalte immer wieder Hinweise auf Verdachtsfälle. Mann weiss, dass Frauenrechtsorganisationen manchmal um Informationen gebeten werden, damit man hier – heimlich – eine Beschneidung durchführen kann. Auch gibt es Studien und Schätzungen zur möglichen Zahl der betroffenen Mädchen.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rechnet in einem Bericht von 2013 mit knapp 15'000 Frauen und Mädchen, die in der Schweiz von Genitalverstümmelung betroffen sind oder der Gefahr ausgesetzt sind, beschnitten zu werden. Eine neue Situationseinschätzung, die vom BAG noch nicht publiziert wurde, kommt sogar zu einer weit höheren Zahl an Betroffenen und Gefährdeten und rechnet mit mindestens 20'000 Frauen.

Ähnliche Zahlen gibt auch die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes Schweiz (TdF) an, die ebenfalls von ca. 15'000 gefährdeten und bereits betroffenen Mädchen und Frauen ausgegangen ist, nach neuesten Hochrechnungen aber von 22'000 Betroffenen spricht. Dies, weil nach wie vor Menschen aus Ländern mit hohen Vorkommensraten in die Schweiz kommen, weshalb die neuesten Hochrechnungen höher ausfallen.

«Das sind Schätzungen, harte Fakten gibt es jedoch nicht», führt Marisa Birri von Terre des Femmes Schweiz aus. «Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Beschneidung in der Schweiz in den letzten Jahren zugenommen hat. Dadurch und durch unserer Sensibilisierungsarbeit steht das Thema aber auch verstärkter in der öffentlichen Wahrnehmung.»

Während der «Schneide-Saison» durch Europa

Und auch auf kantonaler Ebene gibt es Hinweise und Zahlen. Im Jahr 2012 gab etwa der Kanton Waadt an, dass man im Universitätsspital Lausanne, dem «Centre hospitalier universitaire vaudois», alleine in einem Jahr mit rund 600 betroffenen Patientinnen Kontakt gehabt habe.

Doch, und das ist die Crux an der Sache: Das medizinische Personal untersteht dem Arztgeheimnis und hat entsprechend keine Meldepflicht, selbst wenn es eine illegale Beschneidung feststellen sollte. Zwar sind die Melderechte und -pflichten kantonal unterschiedlich geregelt, der Staat und die Justiz erfahren jedoch nur in den allerseltensten Fällen von einer illegalen Beschneidung.

Die EU geht davon aus, dass in Europa fast 500'000 Betroffene leben. Weltweit sollen es rund 200 Millionen Betroffene sein. Das ist eine von 20 Frauen weltweit.

Gerüchte gibt es, Hinweise auch. Aber Beweise, oder Kontaktpersonen, die Stellung nehmen, sind beinahe inexistent. Fast alle Personen, mit denen wir im Rahmen unserer Recherche gesprochen haben, bestätigten uns, dass es unzählige Verdachtsfälle gebe, man diese aber nicht sicher belegen könne.

Denn die Beschneidungen hier in der Schweiz werden im Verborgenen durchgeführt. Niemand erfährt etwas, niemand sieht etwas. «Es passiert ja bei den Menschen zu Hause, das erfährt niemand», meinte eine betroffene Frau.

Aber auch aus anderen Ländern sind wir auf Berichte gestossen, wonach etwa in Grossbritannien, Deutschland oder Italien ältere Frauen, welche die Beschneidungen typischerweise durchführen, während der Sommer- und Herbstferien, der traditionellen «Schneide-Saison», nach Europa eingeflogen werden, um hier die Beschneidung illegal irgendwo in einer Asylunterkunft, einem Hinterhof oder einer Tiefgarage durchzuführen.

So verzeichnet zum Beispiel der staatliche britische Gesundheitsdienst NHS seit April 2018 über 1200 Fälle pro Quartal – das entspricht hundert pro Woche. Und dies sind nur die gemeldeten Fälle.

Vor diesem Problem stehen auch Diaspora-Vereine und Gemeinnützige Vereine wie Swisso Kalmo, eine Organisation, die sich stark für interkulturelle Vermittlung und die Gesundheitsversorgung einsetzt. Bashir Gobdon, der Co-Präsident des Vereins, weist auf die Schwierigkeiten hin, mit denen der Verein in dieser Thematik zu kämpfen hat: «Solange es Flüchtlinge aus Afrika gibt, die nach Europa kommen, besteht auch ein Risiko, dass in Europa Beschneidungen stattfinden – denn Menschen nehmen ihre Kultur und Tradition mit, wenn sie umsiedeln.»

«Solange es Flüchtlinge aus Afrika gibt, die nach Europa kommen, besteht auch ein Risiko, dass in Europa Beschneidungen stattfinden – denn Menschen nehmen ihre Kultur und Tradition mit, wenn sie umsiedeln.»

Dadurch habe seine Organisation auch schon von Familien gehört oder erfahren, die mit ihren Kindern von der Schweiz nach Ostafrika gereist seien, um ihre Töchter beschneiden zu lassen. Doch Kontakte oder klare Beweise würden auch ihnen nicht vorliegen. «Denn Neuigkeiten darüber erreichen uns oft nur über Bekannte von Bekannten, nicht jedoch direkt», meint Gobdon. Und deshalb sei die korrekte Einschätzung der Situation und ihrer Tragweite auch so schwierig.

Doch auch wenn man keine genauen Zahlen zur Verfügung hat und die Problematik der Situation nicht genau einschätzen kann, darf man sie auf keinen Fall verharmlosen, sagt Idah Nabateregga, die als Community-Managerin bei Terre des Femmes arbeitet. «Beschneidung ist ein Tabu-Thema, darüber wird wenig oder ungern gesprochen.» Was jedoch klar sei, das sei die Tatsache, dass durch die Zuwanderung die absoluten Zahlen der Betroffenen in Europa kontinuierlich steigen würden.

«In diesem Zusammenhang hat sich die Situation in Europa, was die absoluten Zahlen betrifft, tendenziell verschlechtert.» Für Nabateregga ist es daher umso wichtiger, dass man offen damit umgehe und die Problematik, die Gefahren und gesundheitlichen Schwierigkeiten thematisiere.

«Durch die Zuwanderung sind die absoluten Zahlen in Europa kontinuierlich gestiegen.»

Die gleiche Position vertritt auch das Bundesamt für Gesundheit BAG. Auf unsere Anfrage hin teilt Mediensprecher Yann Hulmann mit, dass bei Diaspora-Communities ein grosser Bedarf an Austausch, Aufklärung und Beratung bestehe, damit die Beschneidung in der Schweiz unterbunden werden könne. «Da es sich um ein stark tabuisiertes Thema und in der Schweiz um eine Straftat handelt, sind genaue Daten und Zahlen nicht möglich, sondern nur Schätzungen.»


Durch die Zuwanderung kam die Genitalverstümmelung wieder zu uns nach Europa. Aber warum halten die Menschen hier genau an der Tradition fest? Und warum stiess der Fall rund um Deeqa auf so viel Aufmerksamkeit? Diese Fragen haben wir Charlotte Weil gestellt. Sie ist Referentin bei der Menschenrechts-Organisation Terre des Femmes in Berlin und beschäftigt sich dort intensiv mit dem Thema.

«Das Loch ist so klein, da passt gerade noch ein Reiskorn durch» – Betroffene erzählen

3. Kapitel

Beschneidung ist ein Frauenthema. Deswegen wollen Leila* und Ferida* ihre Geschichte der Frau unseres Teams erzählen. Das war die Bedingung für unser Treffen. Auch soll die Identität der beiden Somalierinnen anonym bleiben. Angst aber scheinen sie keine zu haben. Beide nicht. Sie wissen, weshalb sie hier sind und sind bereit über ihre Erlebnisse zu sprechen. Es wird ein offenes, beinahe vertrautes Gespräch mit einer Umarmung zur Verabschiedung.

Leila lebt seit 2004 in der Schweiz. Damals war sie 23 Jahre alt. Ferida ist vor sechs Jahren in die Schweiz gekommen, zuvor lebte sie in Irland. Beide sind verheiratet, doch nur Leila hat Kinder: zwei Jungen, zwei Mädchen. Die zwei Frauen kamen in ihrer Kindheit in Somalia beide mit dem Beschneidunsgsritual in Berührung, doch auf ganz unterschiedliche Weise. Leila musste die sogenannte «pharaonische Beschneidung» – die schwerste Form – über sich ergehen lassen.

Dabei wird die gesamte Vulva abgeschnitten: die äusserlich sichtbare Knospe der Klitoris, die inneren, sowie die äusseren Schamlippen. Leila fährt mit ihrem Finger über ihre Handfläche: «So glatt muss es sein, alles weg.» Danach wird genäht. Nur ein kleines Loch, um zu pinkeln, bleibt offen. Sie klingt fast ungläubig, als sie sagt: «Das Loch ist so klein, da passt gerade noch ein Reiskorn durch.»

Diese Operation hat weitreichende Folgen: «Das Pinkeln ging noch aber bei der Menstruation hatte ich immer fürchterliche Schmerzen, weil das Blut nicht durchkam.» Sie spricht davon in der Vergangenheit, denn als sie Somalia Richtung Südafrika verliess, unterzog sie sich einer Operation, die das Loch ein wenig vergrösserte. Seit dann habe sie keine Schmerzen mehr, erzählt sie. Komplikationen gab es nur bei der Geburt. Dort hätte es extrem stark geblutet.

«Sie hatte Glück, ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben. Deshalb haben sie bei ihr nur einen kleinen Schnitt gemacht und nichts weggeschnitten.»
Leila über Ferida

Ferida blieb weitestgehend verschont: Ein kleiner Schnitt und ein Tropfen Blut genügte hier den Ansprüchen. Dieses Vorgehen trägt den Namen «Sunna». Leila spricht von Glück, dass die Mutter ihrer Freundin bei der Geburt gestorben ist. Sonst hätte sie womöglich ebenfalls eine pharaonische Beschneidung erlitten.

Die Frage, ob sie Sex mit ihrem Mann geniessen könne, führt zwar zu ein wenig verschämtem Lachen, aber Ferida bejaht vehement. Leila wird die gleiche Frage gestellt. «Nein», sagt sie bedauernd, «ich spüre gar nichts, es ist alles weg.»

Der Tag, als es geschah

Ob sie sich an ihre Beschneidung erinnern könne? «Ja, dieser Tag ist hier eingebrannt. Das geht nicht mehr weg.», meint Leila und tippt sich an die Schläfe. «Ich war viereinhalb, meine kleine Schwester dreieinhalb und die grössere fünfeinhalb. Sie haben uns alle am gleichen Tag beschnitten.» Sie erinnert sich, dass die Eltern sich stritten. Die Mutter setzte sich gegen den Vater durch.

Sie nahm die drei Mädchen mit ins Auto. Die Fahrt dauerte lange. Leila erinnert sich an ein Haus mit einem Busch und an das Zimmer, in dem sie warten musste, alleine. Sie hatte keine Ahnung, was ihr bevorstand. Die ältere Schwester war zuerst an der Reihe, die kleinere war in einem weiter entfernten Zimmer, damit sie das Weinen und die Schreie nicht hörte.

Leila aber hörte ihre grosse Schwester weinen. Und sie hatte Angst. All zwei Minuten musste sie auf die Toilette, solche Panik hatte sie. «Aber nach meiner Schwester war ich dran...» Leila springt zum Zeitpunkt nach der Beschneidung: «Du kannst nicht laufen, man muss alles zusammenbinden bis hinunter zu den Füssen. Zehn Tage kannst du nur liegen, bis die Fäden herausgenommen werden. Auf die Toilette muss dich jemand tragen oder du drehst dich einfach auf die Seite und lässt laufen.»

Von zu viel Blut und den Schmerzen danach

Das Schlimmste für Leila war allerdings nicht die eigene Beschneidung: «Meine kleine Schwester hat nach der Operation so fest geblutet, dass sie fast gestorben wäre. Sie konnten das Blut nicht stoppen und sie konnten sie nicht zunähen, wegen dem vielen Blut.» Leilas kleiner Schwester blieb nichts erspart: Ein Jahr später, holte die Mutter nochmals eine Frau ins Haus, welche das kleine Mädchen fertig zunähte.

Auch von der grösseren Schwester erzählt Leila. Sie konnte den ganzen Tag nicht auf die Toilette, weil es so sehr schmerzte. «Es brennt unglaublich!», erinnert sie sich selbst, «ich war so froh, hatte ich es geschafft, zwar mit Weinen und unter starken Schmerzen, aber es war geschafft.» Bei der grösseren Schwester wurde es schlimmer. Sie hatte starke Schmerzen in der Blase und im Bauch, aber konnte bis spät in die Nacht nicht urinieren.

«Meine Mutter denkt, dass meine Tochter ohne Beschneidung mit jedem Mann mitgeht.»

Weiss sie, weswegen die Mutter das ihr und ihren Schwestern angetan hat? «Tradition. Sie ist beschnitten, also müssen ihre Töchter auch beschnitten sein. Ich verstehe das nicht. Ich bin beschnitten und ich will das nicht für meine Töchter! Aber viele denken immer noch wie meine Mutter. In Somalia sind fast 100 Prozent pharaonisch beschnitten. Es gibt schon Bewegungen dagegen, aber sie haben leider keine Kraft.» Unbeschnittene Mädchen gelten als unrein. Die Mutter äussere auch die Angst, dass ihre Enkelinnen unbändige sexuelle Lust verspüren und mit jedem Mann mitgehen. «Aber ich glaube nicht daran», sagt Leila vehement.

Beschneidung ist Frauenthema

Leila betont immer wieder, dass es die Frauen sind, welche dies ihren Töchtern, Enkelinnen oder Nichten antun. Ihre Mutter, erzählt sie, insistiert immer wieder, dass ihre Enkelinnen beschnitten werden sollen. Doch Leila wehrt sich. «Meine Mutter glaubt immer noch daran», sagt sie ungläubig, «aber was willst du machen, das sind uralte Traditionen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden.» Ihre Mutter wohnt bei Leilas Bruder, welcher fünf Mädchen hat und drängt auch ihn dazu, seine Töchter zu beschneiden. Auch hier interveniert Leila: «Nein, das darfst du nicht machen!» Und auch ihr Mann sei dagegen.

«Es sind die Frauen, die erfahren müssen, dass Beschneidungen schlecht sind. Weil es sind auch die Frauen, die es den Töchtern antun.»

Welche Rolle spielen denn die Männer? Den Männern sei es egal, meint Leila. Es fällt schwer, das zu glauben, denn sie sind ja auch direkt betroffen. Im Verlaufe des Gesprächs buchstabiert Leila ihre Aussage ein wenig zurück. Viele Männer wissen, was passiert, sagt sie. Es gäbe Männer, die unbeschnittene Frauen suchen, weil diese mehr Lust auf Sex haben und keine Schmerzen dabei empfinden. Trotzdem: Die Frauen sprechen nicht mit ihren Männern darüber.

Unter Frauen wird sich aber schon darüber ausgetauscht? «Ja, wenn wir uns treffen in der Gruppe, besprechen wir das Thema schon. Und das ist gut, denn es sind die Frauen, die erfahren müssen, dass das schlecht ist. Weil es sind auch die Frauen, die es den Töchtern antun. Mein Vater war dagegen und meine Mutter hat es trotzdem gemacht bei uns allen drei.» Der Vater war dagegen, wusste er also Bescheid? «Mein Papa hat ein bisschen Religion (Islam) gelernt und daher wusste er, dass es falsch ist. Bei einer Sunna-Beschneidung wie bei Ferida wäre er einverstanden gewesen, aber nicht bei einer pharaonischen wie bei mir.»

Die Religion ist dagegen

Der Aspekt der Religion ist wichtig, Leila spricht immer wieder davon. War es denn vor allem die Religion, die sie so explizit gegen die Beschneidung sprechen lässt? «Ich habe erst mit etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren verstanden, dass die Beschneidung falsch ist. Es war mein Religionslehrer, der sagte, er wolle nicht, dass Frauen beschnitten werden.» Für Leila und die anderen Mädchen war das komisch, weil viele von ihnen bereits beschnitten waren und es als normal ansahen.

«Der Lehrer meinte, im Qur'an und der Sunna stehe nichts von Beschneidung.» Das war der Moment, in dem sie verstand, dass es falsch war. Aber es war schon passiert. «Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich meiner Mutter 'Nein' sagen können aber mit viereinhalb Jahren weisst du nicht, was passiert.»

«Der Religionslehrer sagte, im Qur'an und der Sunna stehe nichts von Beschneidung.»

Bei ihr war es also der Religionsunterricht, der ihr erstmals den Gedanken gab, dass die Beschneidung nicht sein muss, ja sogar falsch sein könnte. Leila sieht den Islam denn auch als wichtiges Mittel, um Leute von der Tradition abzubringen. Das sei auch ein Weg, um Männer dazu zu bringen, sich gegen die Beschneidung auszusprechen.

In der Berichterstattung wird häufig erwähnt, dass der Druck der Gemeinschaft hoch sei, die Töchter beschneiden zu lassen. Leila bestreitet das, zumindest für die ihre Situation in der Schweiz. Ob ein Mädchen beschnitten werde, sei Sache der Eltern, da könne sich niemand einmischen. Sie erinnert an ihre eigene Situation: Ihre Mutter, die sie drängt, die Mädchen zu beschneiden und sie, die 'Nein' sagt. Diese Entscheidung ist hierzulande auch rechtlich gestützt, das wird den Frauen nahegelegt.

«Jedes Mal wenn ich mit meiner kleinen Tochter zum Arzt gehe, kontrolliert er sie da unten und sagt mir, dass die Beschneidung hier verboten ist.» Sie lacht: «Ich weiss das und ich will es ja nicht machen. Man geht auch ins Gefängnis, wenn man das tut. Das finde ich wichtig!» Es sind in der Tat happige Strafen, die die Eltern erwarten, wenn sich herausstellt, dass ein Mädchen beschnitten wurde.

Für Leila ist das auch ein wichtiges Argument in der Diskussion mit anderen Frauen. Sie kann sich auf das Gesetz berufen.

«Vielleicht 1 Prozent will es trotz Verbot machen, die anderen wollen es nicht und zwar nicht nur, weil es verboten ist.»

Auf die Frage, ob sie von Leuten in der Schweiz weiss, die pro-Beschneidungen sind, sagt Leila: «Vielleicht 1 Prozent will es trotz Verbot machen, die anderen wollen es nicht und zwar nicht nur, weil es verboten ist.» Sie kennt aber niemanden. Auf konkretes Nachfragen hin führt sie aus, dass sie schon davon gehört habe, dass Eltern ihre Mädchen auch hier beschneiden liessen. Sie hörte von einem Beschneider, der aus Italien einreisen würde, speziell dafür. Es bleibt aber beim Hörensagen. Sie wisse nicht, ob das dann wirklich passiert sei. Und sie denkt auch, dass das Einzelfälle sind.

«Es braucht noch viel mehr. Die Frauen müssen Bescheid wissen.»

«In Somalia kam einmal eine Nachbarin zu mir, als sie frisch verheiratet war. Sie blutete so stark und sie konnte nicht laufen. Aber sie wusste nicht, was los war.» Leila erklärt, dass Frauen, die pharaonisch beschnitten wurden, so wie sie, vor der Hochzeitsnacht ein wenig geöffnet werden müssen im Spital, damit Sex überhaupt möglich ist. Ihre Nachbarin wusste das nicht und sie selbst zu diesem Zeitpunkt auch nicht.

«Wenn es nicht geöffnet wird und der Mann will trotzdem Sex, kann es sein, dass es reisst. Das macht wahnsinnig weh und es fliesst viel Blut. Der Mann dieser Nachbarin tat das oft und sie konnte danach nicht laufen. Ich habe das gesehen und ich wollte nicht heiraten.»

Erst später habe sie von einer Cousine erfahren, dass man das Loch ein wenig vergrössern könne. Auf dem Heiratsmarkt hätte sie damit aber wenig Chancen gehabt. «Es passiert oft, dass die Männer einen Tag nach der Heirat die Frauen wegschicken, wenn sie sich zuvor ein wenig öffnen lassen haben. ‹Du bist keine Jungfrau, geh weg›, sagen sie dann. Die Beschneidung wird eben genau deswegen gemacht: Damit die Mädchen vor der Heirat keinen Sex haben. Es soll keinen Spass machen.»

Leila hat andere Vorstellungen für ihre Töchter. Sie denkt zunächst an ihre Älteste, wenn sie sagt: «Ich möchte meiner Tochter erzählen, was mir passiert ist. Sie muss das wissen. In der Schule sollte man den Kindern auch davon erzählen und sagen, dass es nicht gut ist, und dass sie Nein sagen können! Ich möchte, dass meine Töchter als normale Mädchen aufwachsen, gleich wie andere Mädchen dieser Welt.»

*Geänderte Namen. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.

Unsere Co-Autorin im persönlichen Gespräch mit zwei betroffenen Frauen.

Unsere Co-Autorin im persönlichen Gespräch mit zwei betroffenen Frauen.

Eckdaten zur Situation in Somalia, dem Herkunftsland unserer beiden Gesprächspartnerinnen: Betroffene: 98% der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre) Typ III/Pharaonische Beschneidung: 80% der Betroffenen sind nach der schwersten Form beschnitten. Befürworterinnen: 65% der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre) Alter: 6% von FGM wird vor dem 4. Lebensjahr der Mädchen vollzogen, 79% zwischen dem 5. und 9. und nochmals 10% nach dem 10.

Die Beschneiderinnen

4. Kapitel

Wer sind eigentlich die Frauen, welche junge Mädchen verstümmeln? In Somalia nennt man sie Guddaays, übersetzt heisst dies «Beschneiderinnen». Oft sind sie ältere Frauen ohne wirkliche Ausbildung, die mit meist einfachen Mitteln die Beschneidungen durchführen. Da gutes und reines medizinisches Gerät oft fehlt in den ländlichen Regionen Afrikas, greifen die Guddaays auf Messer, Rasierklingen, zugespitzte Nägel oder grosse Glasscherben für das Beschneiden und Ausschaben zurück. Für das Zunähen werden Dornen-Nadeln und Tierhaare verwendet.

Wegen der fehlenden Hygiene sind Entzündungen und Komplikationen vorprogrammiert, welche die Folgen des Eingriffs oftmals nur noch schlimmer machen. Und dabei ist die Beschneidung an sich schon eine Tortur.

«In diesem Moment will man einfach nur noch sterben.»

Denn bei der pharaonischen Beschneidung, der schlimmsten Form der Verstümmelung, werden den jungen Mädchen die äusseren und inneren Schamlippen komplett abgeschnitten. Die Klitoris und die Klitorisvorhaut werden ebenfalls abgeschnitten und dann verätzt, die Vagina danach mit einem langen Nagel ausgeschabt.

Das ganze ohne Narkose oder Betäubungsmittel. Eine betroffene Frau erinnert sich: «In diesem Moment will man einfach nur noch sterben.»

Wie Charlotte Weil von Terre des Femmes erzählt, bluten diese offenen Wunden extrem stark, weshalb die Guddaays die Wunden mit glühender Asche ausbrennen und danach mit Kräutern einreiben. Mit Dornen-Nadeln werden dann die Hautfetzen wieder zusammengesteckt und mit einem Faden oder mit Tierhaaren vernäht, sodass nur ein kleines Loch übrig bleibt, damit später Urin und Menstruationsblut herausfliessen können. Die Schmerzen sind unerträglich. Doch Schmerzmittel gibt es nicht.

Mit dem Eingriff jedoch, ist das Leid nicht vorüber.

Ein Gesicht von Schmerz gezeichnet. Die Beine sind zusammengebunden, damit die Wunden verheilen können.

Ein Gesicht von Schmerz gezeichnet. Die Beine sind zusammengebunden, damit die Wunden verheilen können.

Denn dann beginnt die Heilung. Ein schmerzbringender, beschwerlicher und leidvoller Weg. Die Wunden, kaum versorgt, brauchen lange, um zu verheilen. Den kleinen Mädchen werden die Beine zusammengebunden und Tücher werden ihnen zwischen die Beine gelegt.

Leiden – ein Leben lang

Bewegen dürfen sie sich fast nicht. Denn sie müssen die Beine zusammenhalten, ansonsten können die Wunden erneut aufreissen – und müssen erneut zugenäht werden. Eine Betroffene erzählt: «Unbewegt liegen. Daran hielt sich meine Schwester nicht. Ihre Wunden rissen alle wieder auf. Die Beschneiderin musste nochmals kommen und sie zunähen. Und der Schmerz ging von vorne los.»

Und so müssen sie liegen. Tage, unter Umständen Wochen. Und um den Harndrang zu reduzieren, werden die Kinder auf eine einfache und effektive Diät gesetzt:

Wasser und Reis.

Das Wasser ist nötig, damit die Mädchen nicht verdursten, da es in der somalischen Wüste extrem heiss werden kann. Der Reis wiederum bindet das Wasser, das die Mädchen trinken und reduziert so den Harndrang. Denn mit den offenen Wunden zur Toilette zu müssen, ist eine Qual. Und so liegen die Mädchen da, mit zusammengebundenen Beinen, dürfen sich kaum bewegen und kriegen beinahe nichts zu essen und trinken.

Nur Wasser und Reis.

Das Gehen fällt nach der Beschneidung schwer. Jeder Schritt schmerzt.

Das Gehen fällt nach der Beschneidung schwer. Jeder Schritt schmerzt.

Erst wenn die Wunden nach einiger Zeit wieder zusammengewachsen und verheilt sind, können die Mädchen wieder aufstehen und versuchen zu laufen. Jeder Schritt reibt jedoch die Wunden aneinander, was das Laufen, was Bewegungen schmerzhaft macht. Oft monatelang, oft jahrelang und manchmal auch ein ganzes Leben lang.

Denn die Konsequenzen aus diesem Eingriff sind schwerwiegend. Während die Verstümmelungen in gut ausgerüsteten Spitälern gelindert – jedoch nie vollständig behoben – werden können, so ist dies in den Hospitals in der somalischen Wüste kaum möglich. Und so kann es kurzfristig zu starken Blutungen, Entzündungen und Schockzuständen kommen.

«Unbewegt liegen. Daran hielt sich meine Schwester nicht. Ihre Wunden rissen alle wieder auf. Die Beschneiderin musste nochmals kommen und sie zunähen. Und der Schmerz ging von vorne los.»

Akute Infektionen der Wunden führen zu Abszessen, Vernarbungen und eitrigen Geschwulsten. Und in vielen Fällen kommt es langfristig zu Dammrissen, Komplikationen bei der Menstruation, schwerer Inkontinenz und, in etwa 30 Prozent aller Fälle, zu Infertilität.

Und trotzdem. Obwohl die Mädchen bei der Beschneidung extreme Qualen durchleben und die Frauen ein Leben lang gezeichnet sind, so geniessen die Beschneiderinnen, welche die Verstümmelungen vornehmen, in den Ländern Afrikas grosses Ansehen. Denn in vielen Gesellschaften gilt die Entfernung des äusseren Genitales und der Körperbehaarung als ein Attribut der Schönheit.

Und oft geht es auch einfach um das Geld, erzählte uns eine Journalistin, die schon seit vielen Jahren in Afrika lebt und von dort berichtet. Denn je stärker das weibliche Geschlechtsorgan verunstaltet ist, desto reiner gilt die Frau und desto höher ist der Brautpreis, den die Eltern des Mädchens erheben können, wenn es denn verheiratet werden soll. Auch wenn die Beschneidung brutal und schmerzhaft ist, es lohnt sich finanziell für die Familien in einem Land wie Somalia, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen bei etwa 1'200 Franken liegt.

«Manchmal beschnitt ich an einem Morgen 40 Mädchen. Manche gaben mir eine Ziege, bei anderen verlangte ich bis zu 50 Dollar.»

Und so sind die Guddaays, die Beschneiderinnen, respektierte Frauen, die einen hohen sozialen Status geniessen. Denn sie verhelfen den Familien in den ärmsten Ländern dieser Welt dazu, etwas mehr Geld für das Nötigste zu erhalten. Und auch für die Beschneiderinnen lohnt es sich. Denn durch die Verstümmelung erzielen sie gute Einnahmen.

Halwo Abdi ist eine ehemalige Beschneiderin. Heute spricht sie sich öffentlich gegen Beschneidungen aus. Bild: David Signer

Halwo Abdi ist eine ehemalige Beschneiderin. Heute spricht sie sich öffentlich gegen Beschneidungen aus. Bild: David Signer

«Manchmal beschnitt ich an einem Morgen 40 Mädchen. Manche gaben mir eine Ziege, bei ganz armen Familien machte ich es gratis, bei anderen verlangte ich bis zu 50 Dollar», sagte die 50-jährige Halwo Abdi einst in einem Interview gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. Beschnitten werde vor allem während der Regenzeit. «Dann haben die Leute Geld, und es gibt genug Fleisch und Milch. Das brauchen die Mädchen, wenn sie Blut verlieren.»

Der Fotograf Jean-Marc Bouju begleitete im Jahre 1997 das sechsjährige Mädchen Hudan Mohammed Ali bei diesem Prozess. Dies sind einige seiner Bilder:

Farhyia Mohammed Ali, die grössere Schwester, trägt die kleine Hudan zum Ort der Beschneidung. Mit dabei sind viele Verwandte, die der Zeremonie beiwohnen.

Das Mädchen auf dem Weg zur Beschneiderin. Die Angst scheint Besitz von ihr genommen zu haben.

Die Utensilien liegen bereit, die Beschneiderin reinigt sich die Hände.

Die grosse Schwester hält die kleine Hudan.

Hudans schreie seien so laut gewesen, schrieb der Fotograf, dass zwei Nachbarsmädchen vor Neugier kamen, um sich zu erkundigen, was hier passiere.

Die Beschneidung ist vorbei, die Schmerzen noch immer da. Eine Woche lang sei Hudan hier mit zusammengebundenen Beinen gelegen und habe ausser Reis und Wasser nichts zu essen oder trinken bekommen.

Farhyia Mohammed Ali, die grössere Schwester, trägt die kleine Hudan zum Ort der Beschneidung. Mit dabei sind viele Verwandte, die der Zeremonie beiwohnen.

Das Mädchen auf dem Weg zur Beschneiderin. Die Angst scheint Besitz von ihr genommen zu haben.

Die Utensilien liegen bereit, die Beschneiderin reinigt sich die Hände.

Die grosse Schwester hält die kleine Hudan.

Hudans schreie seien so laut gewesen, schrieb der Fotograf, dass zwei Nachbarsmädchen vor Neugier kamen, um sich zu erkundigen, was hier passiere.

Die Beschneidung ist vorbei, die Schmerzen noch immer da. Eine Woche lang sei Hudan hier mit zusammengebundenen Beinen gelegen und habe ausser Reis und Wasser nichts zu essen oder trinken bekommen.

Der Fotograf Jean-Marc Bouju fasste seine Eindrücke von der Beschneidungszeremonie schriftlich zusammen:

«Hudan Mohammed Alis Schreie nach Allahs Gnade liessen mir die Adern einfrieren und das Herz stillstehen. Die grössere Schwester hält ihr die Augen zu, hält ihr das Gesicht, während andere Frauen Hudans dünne Beinchen auseinander spreizen. Eine alte Beschneiderin schneidet tief in das Fleisch der 6-Jährigen. Drei Frauen halten Hudan fest auf dem Boden, während sie sich unter den Schmerzen windet und wegdreht. Dabei liegt sie im eingetrockneten Blut, wo bereits tausende kleine Mädchen vor ihr verstümmelt wurden, in einem altertümlichen Ritual. Einem Ritual, in dem man den Mädchen die Genitalien wegschneidet. <Ich muss tiefer in das dunkle Fleisch schneiden, das muss alles weg>, sagt Halimo Mohamoud Obahleh, Hudans Grosstante, die als traditionelle Beschneiderin die Zeremonie leitet, und schneidet weiter, während Hudan vor Schmerzen schreit.»

Über den Verbleib und den gesundheitlichen Zustand von Hudan liegen keine Informationen vor.


Hinter der Beschneidung der weiblichen Geschlechtsorgane stehen in Afrika vor allem Tradition, Rituale und Aberglaube. Für dies zahlen die betroffenen Frauen und Mädchen jedoch einen enorm hohen Preis. Über das Leid dieser Frauen haben wir nochmals mit Charlotte Weil von der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes gesprochen, die Sie bereits aus Kapitel 2 kennen.

Eine uralte Tradition – mit gravierenden Folgen

5. Kapitel

200 Millionen Frauen und Mädchen müssen weltweit mit den Folgen der Beschneidungen leben. Von dieser Zahl geht das UNICEF aus. Und die Tradition lebt weiter: Zwischen 2015 und 2018 liefen 68 Millionen Mädchen Gefahr, verstümmelt zu werden. Die Beschneidungen finden im frühen Kindesalter bis zum 15. Lebensjahr statt.

«Genitalverstümmelung gibt es noch immer, auch wenn sie verboten ist», bestätigt die prominente kenianische Politikerin Beth Mugo. 2003 hat die Afrikanische Union in Maputo (Mozambique) ein Protokoll verabschiedet, in welchem die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung verurteilt und ihre Ausrottung gefordert wird.

Laut den neusten verfügbaren Informationen der Afrikanischen Union haben 40 von 55 afrikanischen Staaten das Protokoll ratifiziert. Somalia, Eritrea und Ägypten gehören zu jenen Staaten mit den höchsten Beschneidungsraten. Alle drei haben das Maputo-Protokoll nicht ratifiziert, Ägypten hat es nicht einmal unterschrieben.

Beschneidungsquote pro Land.

Viele NGOs, Aktivisten und Aktivistinnen, Behörden und Staaten setzen sich gegen die Beschneidung ein. Um sie zu bekämpfen, ist es wichtig, die Wurzeln zu kennen. Es gibt viele Vermutungen, wann und wo weibliche Genitalbeschneidung ihren Ursprung hatte – keine davon ist bewiesen oder definitiv. Das stellt Petra Schnüll gleich am Anfang des Gespräches klar.

Schnüll ist unter anderem Autorin der Bücher «Schnitt in die Seele» und «Weibliche Genitalverstümmelung. Eine fundamentale Menschenrechtsverletzung» und arbeitete eng mit «Terre des Femmes» zusammen. Heute ist sie als persönliche Referentin in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie in Göttingen tätig. Sie hat sich bereit erklärt, ihr Wissen über die Geschichte der weiblichen Genitalbeschneidung mit uns zu teilen.

Die Beschneidung als animistische Tradition

Vermutet wird, dass das Beschneiden von Geschlechtsteilen – und zwar weibliche und männliche – eine abgeschwächte Form von Menschenopfern sei. «Es ist nicht unüblich, als Ausdruck der Verbindung oder Ehrerweisung gegenüber dem jeweiligen Gott Manipulationen an den Genitalien vorzunehmen», bringt es Petra Schnüll auf den Punkt.

Und das nicht nur an weiblichen Geschlechtsteilen, denn interessanterweise gibt es überall, wo weibliche Genitalien beschnitten werden auch die Praxis der männlichen Beschneidung. Umgekehrt gilt dies nicht «und die beiden können anatomisch auch nicht auf eine Stufe gestellt werden», stellt Schnüll klar. Bei einigen Ethnien  werde das Blut rituell auf die Erde geträufelt, im Sinne von «Mutter Erde hat uns hervorgebracht, jetzt geben wir ihr etwas zurück.»

Dass es dabei gerade die Genitalien sind und nicht eine Fingerkuppe, durch die auch genügend Blut fliesst, hat nach Schnüll vermutlich mit der Symbolik der Fruchtbarkeit zu tun.

Gesellschaftliche Zuordnung

«Man weiss, dass Mädchen schon im alten Ägypten beschnitten wurden. Dort war es ein Zeichen der edlen Herkunft, Bäuerinnen oder Sklavinnen wurden nicht beschnitten, Angehörige des Adels jedoch schon.» Die Beschneidung des Geschlechts diente als gesellschaftliche Abgrenzung.

Bei den Römern hingegen waren gerade die Genitalien der Sklavinnen – also der untersten Schicht – Gegenstand verschiedener Praktiken, darunter Beschneidungen oder «Piercings». Letztere dienten jedoch nicht der Dekoration. Sie wurden, anders als die heutigen Intimpiercings, dazu verwendet, das weibliche Geschlecht zu verschliessen, «sie wurden sozusagen zugepierct». Der Sinn und Zweck davon war, die Sklavinnen «unberührt weiterverkaufen zu können», meint Schnüll. Ihr Wert war so höher.

Macht über den weiblichen Körper

Hier spielt denn auch der Aspekt der Kontrolle hinein: die Kontrolle über den weiblichen Körper und die Reproduktion. Petra Schnüll vermutet, dass dem zugrunde die Sorge der Männer lag und liegt, nicht eindeutig eigenen Nachwuchs aufzuziehen. «Mein früherer Ethnologieprofessor vertrat die These, dass die besondere Form der Beschneidung, bei der die Frau quasi zugenäht wird, vor allem bei nomadisierenden Völkern Sinn macht, also bei langer Abwesenheit des Mannes.»

So kann sich der Mann sicher sein, dass seine Blutlinie nicht durch das Blut eines anderen verunreinigt wird. Ist eine Frau auf pharaonische Art beschnitten und zugenäht, mit nur einer winzigen Öffnung, ist es für sie unmöglich Sex zu haben, ohne dass das Spuren hinterlässt. Vielleicht könnte man das vergleichen mit dem Keuschheitsgürtel, welche Kreuzritter ihren Frauen aufdrängten, wenn sie auf Feldzüge gingen. Auch da ging es um Kontrolle.

Nicht nur im afrikanischen oder muslimischen Kontext

Die Praxis der Genitalbeschneidung bei Frauen geht weit über den afrikanischen Kontinent hinaus. Grafik: Orchid Project

Die Praxis der Genitalbeschneidung bei Frauen geht weit über den afrikanischen Kontinent hinaus. Grafik: Orchid Project

Der Verweis auf den europäischen Kontext ist ein wichtiger Punkt. Zu oft wird die Beschneidung als etwas gesehen, das sich auf den afrikanischen Kontinent beschränkt. Viele gehören hier dem muslimischen Glauben an. Daraus entsteht auch der Eindruck, dass es sich bei der Genitalverstümmelung um eine muslimische Praxis handelt.

Dabei ist das Ritual deutlich älter als die Religion. In Saudi Arabien als Wiege des Islams und bekannt für eine strikte Anwendung religiöser Regeln werden keine Beschneidungen durchgeführt. Die Praxis war zudem auch im christlichen Kontext gang und gäbe. In den USA wurde die letzte bekanntgegebene Klitoridektomie (das Wegschneiden der Klitoris) 1958 durchgeführt, um die Selbstbefriedigung zu unterbinden oder zu «heilen».

Es stimmt jedoch auch, dass es muslimische religiöse Autoritäten gibt, welche sich nicht explizit gegen die Beschneidung stellen, ja eine Beschneidung sogar befürworten.

Eine tief verwurzelte Tradition

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt also: Die Verstümmelung weiblicher Genitalien reicht weit in die Geschichte zurück. Wieso aber hält sie sich so hartnäckig? Schnüll sieht verschiedene Faktoren. Vonseiten der Frauen gehört es schlicht und einfach dazu, es wird nicht hinterfragt, denn gerade in Somalia sind fast alle Frauen beschnitten.

Es gehört ein Stück weit auch zur Identität: Wer nicht beschnitten ist, ist anders und gehört nicht dazu. Auf die Frage, warum der erlebte Schmerz die Mütter nicht davon abhält, ihre Töchter dasselbe erleben zu lassen, meint Schnüll: «Vielleicht kann man es besser verstehen, wenn man es mit einer Impfung vergleicht: Alle Kinder weinen, wenn sie geimpft werden und trotzdem lassen viele Eltern ihre Kinder impfen, weil sie von der Richtigkeit überzeugt sind.»

«Ist eine Frau auf pharaonische Art beschnitten und zugenäht, mit nur einer winzigen Öffnung, ist es für sie unmöglich Sex zu haben, ohne dass das Spuren hinterlässt.»

Laut Schnüll gibt es ausserdem ein Idealbild der ostafrikanischen Frau: Sie soll nicht jammern, sie soll hart im Nehmen sein und fleissig. Es ist also auch eine Art Stärkebeweis, eine Prüfung, dass Frau der Gesellschaft würdig ist.

Zudem ranken sich verschiedene Mythen um die Beschneidung: Frauen mit unversehrten Genitalien gelten als unrein. So fragen sich Frauen untereinander nicht, ob sie beschnitten sind, sondern: «Bist du gereinigt?». Eine unbeschnittene Frau läuft Gefahr, keinen Mann zu finden, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

Ausserdem lastet ihr der Ruf an, eine unkontrollierbare Libido zu haben, was gefährlich ist. Die Mutter sieht ihr Kind in Gefahr, weil es von der Lust getrieben mit jedem Mann mitginge und ihm ausgeliefert wäre. Die Männer sehen sich ihrer Kontrolle über den weiblichen Körper beraubt.

Kontrolle der weiblichen Sexualität

So sieht Schnüll in der Beschneidung auch ein Mittel, um die Frau zu kontrollieren und an Mann und Haus zu binden. Verspürt eine Frau Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder leidet auch sonst an Schmerzen, ist ihre Lust tatsächlich eingeschränkt.

Der Ehemann muss einerseits keine Angst haben, den Bedürfnissen seiner Frau nicht gerecht zu werden. Es ist auch weniger wahrscheinlich, dass sie ihre Lust ausserhalb der Ehe zu befriedigen sucht. Zudem ist eine Frau, die beschnitten und zugenäht wurde, schwieriger zu vergewaltigen. Der Eingriff wird deswegen oft auch als Schutz verstanden, von Frauen und Männern.

Die Beschneidung als Kontrolle über die Frau, ihren Körper und ihre Sexualität.

Die Beschneidung als Kontrolle über die Frau, ihren Körper und ihre Sexualität.

Die Folgen der uralten Tradition

Die Schweiz hat eine grosse somalische und eritreische Gemeinschaft, welche sich vor allem in der Deutschschweiz niedergelassen hat. Vielfach kommen Mädchen und Frauen dieser Diaspora-Gemeinschaft bereits beschnitten in die Schweiz. Das heisst, gerade für Gynäkologinnen und Gynäkologen ist das Thema präsent. Wir haben mit drei Ärztinnen des Universitäts-Kinderspital Zürich gesprochen, welche auf Kinder und Jugendgynäkologie spezialisiert sind und sich im Bereich weibliche Genitalverstümmelung stark engagieren. Sie haben bereits viele Mädchen und ihre Mütter beraten, untersucht und auch operiert.

Zum ersten Mal in Berührung kam die leitende Ärztin des Bereichs Kinder- und Jugendgynäkologie Renate Hürlimann vor vielen Jahren. Sie arbeitete damals noch als Assistenzärztin auf einer Geburtsstation. Eine Geburt bleibt ihr lebhaft in Erinnerung. Sie bekommt jetzt noch Gänsehaut, wenn sie daran denkt: «Der Zeitpunkt war da, wo das Köpfchen des Babys durch die Scheidenöffnung kommen sollte. Doch das Loch war viel zu klein. Das Kind kam einfach nicht durch. Es half nur das Aufschneiden.»

Hätte die Frau in ihrem Ursprungsland ohne medizinische Hilfe geboren, dann wäre das Neugeborene eventuell geschädigt zur Welt gekommen oder sogar verstorben. Die Mutter hätte sich vermutlich durch den langanhaltenden Druck der Wehen Verletzungen im Geburtskanal zugezogen, wodurch sich später Fisteln zwischen Blase und Scheide oder Darm und Scheide gebildet hätten.

Aufgrund dessen hätte die Mutter weder Stuhl, noch Urin mehr halten können – und zwar lebenslang. Diese Inkontinenz wäre nicht nur unangenehm, sondern hätte sich auch drastisch auf die soziale Situation der Mutter ausgewirkt, denn inkontinente Frauen werden oft von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen.

Seit diesem Erlebnis beschäftigt sie das Thema der Beschneidung. Zu ihr und ihren Kolleginnen im Kinderspital kommen viele Mädchen mit somalischen oder eritreischen Wurzeln mit ihren Müttern – Väter seien fast nie dabei. Die Mütter sind fast alle infibuliert. Das heisst es wurde die Klitoris, die Klitorisvorhaut und inneren Schamlippen entfernt und alles bis auf ein kleines Loch zugenäht.

Die gesundheitlichen Folgen für betroffene Frauen sind oft gravierend.

Die gesundheitlichen Folgen für betroffene Frauen sind oft gravierend.

Ein grosser Teil der Arbeit der Ärztinnen ist Aufklärung. Die Mädchen und ihre Mütter kämen oft mit einfachen Bauchschmerzen ins Kinderspital. «Man muss sich vorstellen, dass die Harnröhrenöffnung und Scheidenöffnung unter der vernähten, teils vernarbten Haut bestehen bleiben. Die Haut behindert dann den Austritt von Urin und Menstruationsblut», erklärt Hürlimann.

So müssen sich Blut und Urin ihren Weg unter dem Narbengewebe nach draussen suchen. Es kann zu Rückstau von Urin und Menstruationsblut kommen, was in der Folge zu Infektionen führen kann. Dr. Sonja Fontana vom Kinderspital Zürich erzählt: «Die häufigste Beschwerde ist das Urinieren. Wenn infibulierte Frauen oder Mädchen pinkeln, gibt es keinen geraden Strahl wie bei uns. Es spritzt überall hin und die ganzen Oberschenkel sind nass. Das ist sehr unangenehm und ist die am häufigsten geäusserte Sorge.»

Nicht nur Blut und Urin können nicht ungehindert abfliessen. Auch Talg sammelt sich im Narbengewebe am Ort der entfernten Klitoris und Klitorisvorhaut an, was zu chronischen lokaler Infektion und Auftreibung der Haut führt.

Dieses Szenario versuchen die Ärztinnen der Kinder- und Jugendgynäkologie am Kinderspital Zürich zu verhindern, indem sie ihre jungen Patientinnen und deren Mütter über die gesundheitlichen Folgen der Beschneidung informieren.

Zu den physischen Beschwerden kommen die Auswirkungen auf die Psyche: Manche Betroffene erleben den Eingriff der Beschneidung als traumatisch. Es kann langfristig zu Panikattacken, Depressionen oder Angststörungen kommen. Solche traumatischen Störungen werden ein Stück weit aufgefangen, solange die Mädchen und Frauen in einer Gesellschaft leben, wo die Beschneidung positiv (Reinheit, Schutz) bewertet wird. Der Gedanke, dass das Ritual etwas Gutes und Notwendiges ist, gibt dem erlebten Schock und Schmerz einen Sinn.

Erst durch die Migration und den Wechsel in eine Gesellschaft, welche die weibliche Genitalbeschneidung ablehnt und ihr den Sinn abspricht, entwickeln Betroffene psychische Leiden. Sie werden sich dem erlebten Kontrollverlust über den eigenen Körper bewusst, die Selbstachtung leidet und es bricht eine Welt zusammen. Das verlangt allen, welche sich gegen die Genitalbeschneidung einsetzen und mit Betroffenen in Kontakt sind, grosse Sorgfalt ab. Trotzdem, der Kampf gegen die Beschneidung soll und muss stattfinden. Und deswegen ist er Thema unseres nächsten Kapitels.


Im Gegensatz zur männlichen Beschneidung ist die weibliche Genitalverstümmelung eine tiefgreifende Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität. Seit 1993 gilt sie offiziell als Menschenrechtsverletzung. Die Beschneidung wird von der WHO in vier verschiedene Kategorien unterteilt, wobei Kategorie 3 die schlimmste und – vor allem in Somalia – am weitesten verbreitete Form ist.

Quelle: fgm.com

Quelle: fgm.com

Kategorie 1: (genannt Klitoridektomie): Die Klitoris und/oder die Klitorisvorhaut wird teilweise oder vollständig entfernt.

Kategorie 2: (genannt Exzision): Die Klitoris und die kleinen Schamlippen werden teilweise oder vollständig entfernt, eventuell auch die grossen Schamlippen.

Kategorie 3: (genannt Infibulation): Die Vaginalöffnung wird verengt und dabei aus den inneren oder äusseren Schamlippen ein Verschluss gebildet. Die Klitoris kann ebenfalls entfernt werden.

Kategorie 4: Alle anderen schädlichen Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen. Dies umfasst beispielsweise Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben und Ausbrennen oder Verätzen.

«Stop FGM»: Ein erfolgloser Kampf?

6. Kapitel

Hinweis der Redaktion: Sind auch Sie davon betroffen? Auch wenn das Thema Genitalverstümmelung ein Tabu ist, so ist es trotzdem illegal und gefährlich. Sie haben Anspruch auf Hilfe, Unterstützung und Rat. Dazu gibt es Stellen, die rund um die Uhr für Sie da sind. Eine nationale Auflistung an regionalen Anlaufstellen finden Sie unter der (externen) Internetseite vom Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz.

Die Genitalverstümmelung besteht schon seit tausenden von Jahren und ist viel mehr auf Mythen und Rituale anstatt auf die Religion zurückzuführen. Seit langem ist die Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile äusserst umstritten und wird bekämpft – von Hilfsorganisationen, Regierungen aber auch durch bekannte Aktivistinnen.

Mit Bildung zum Ziel

Aber der Kampf gegen die Genitalverstümmelung ist ein langwieriger und mag teilweise aussichtslos erscheinen. Zwar setzen sich viele Menschen dagegen ein, und in den betroffenen Ländern Afrikas habe auch bei den Jüngeren ein Umdenken stattgefunden. Doch von einer Abkehr von der Beschneidung kann noch keine Rede sein. «Information und Aufklärung ist das Eine – bis aber ein Wertewandel erreicht ist, dauert es lange», sagt Marisa Birri von Terre des Femmes Schweiz.

Denn vor Ort, in den abgelegenen und schlecht erreichbaren Regionen Afrikas, in der Wüste von Somalia oder in den entlegenen Küstenorten in Kenia, würde das Wissen vor den Konsequenzen und den medizinischen Komplikationen fehlen, präzisiert Dr. Idah Nabateregga, von Terres des Femmes. Den Menschen in den abgeschiedenen Regionen dieser Welt würde oftmals die Bildung fehlen. Ohne Bildung fehle das Wissen und somit sei die Aufklärung auch entsprechend schwierig.

Über Bildung und Religionsunterricht sollen Jungen und Mädchen über die Genitalverstümmelung aufgeklärt werden.

Über Bildung und Religionsunterricht sollen Jungen und Mädchen über die Genitalverstümmelung aufgeklärt werden.

Die Rolle der Religion

Dazu komme auch noch die Religion, die gerade in Afrika eine zentrale Rolle spielt, da die Anzahl an gläubigen und streng gläubigen Menschen auf dem Kontinent relativ hoch ist. Viele Menschen würden glauben, dass die Beschneidung eng mit der Religion zusammenhänge, meint die Aktivistin Ifrah Ahmed, was jedoch nicht stimme; die Religion habe mit der Beschneidungspraxis nichts zu tun.

Sie sei aber trotzdem überzeugt, dass der Kampf gegen die Genitalverstümmelung viel schneller gewonnen werden könne, wenn sich Religionsführer klar und entschieden gegen die Mädchenbeschneidung stellen würden.

Ahmeds Forderung mögen sinnvoll erscheinen und können am Beispiel des Sudans auch durchaus so gewertet werden: Seit sich dort die verschiedenen Religionsgemeinschaften gegen die Beschneidung ausgesprochen haben, sanken die Zahlen deutlich.

Der Weg über religiöse Führer funktionierte aber beim Beispiel Ägyptens überhaupt nicht, im Gegenteil: Obwohl die Beschneidung seit 2008 gesetzlich verboten ist und sich der ägyptische Grossmufti, Scheich Schawki Ibrahim Allam, und das ihm unterstellte Zentrum für islamische Rechtsfragen klar und entschieden gegen die weibliche Genitalverstümmelung aussprechen, hat die Beschneidungsrate in Ägypten in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen und liegt aktuell bei etwa 90 Prozent aller Frauen.

Die Gründe für die Zunahme kann sich selbst der ägyptische Grossmufti nicht erklären, wie er in einem Interview sagt. «Die Beschneidung ist ein Fluch. Wir müssen diese Praxis ausrotten, denn sie ist nichts weiter als eine barbarische Tradition.» Der Islam fordere FGM nicht ein, wie religiöse Extremisten es gern behaupteten: «Es ist keine etablierte Praxis, Mohammed hat sie nicht vorgeschrieben, sie steht nicht im Koran und ist in den Hadithen nicht als verpflichtend angeführt.»

Der ägyptische Grossmufti Scheich Schhawki Ibrahim Allam.

Der ägyptische Grossmufti Scheich Schhawki Ibrahim Allam.

Der Kampf in der Schweiz: Es braucht Sensibilisierung

Auch ein gesetzliches Verbot bringt prinzipiell nur etwas, wenn der Staat sicherstellen kann, dass Schuldige bestraft werden. Sonst funktioniert die Abschreckung nicht. Das bedingt auch, dass Beschneidungen entdeckt und erkannt werden müssen. In Somalia, das Land mit einer der höchsten Beschneidungsraten weltweit, ist der Staat zu schwach und zu fragmentiert. In der Schweiz ist ein grosses Problem, dass viele Ärzte – auch Gynäkologen und Gynäkologinnen – nicht darauf geschult sind, beschnittene Vulvas zu erkennen.

Dies bestätigt auch Renate Hürlimann, Leiterin des Fachbereiches Kinder- und Jugendgynäkologie am Kinderspital Zürich. Ihr Befund im Jahre 2007 führte zu einer der wenigen Verurteilungen von Eltern, weil sie ihre Tochter in der Schweiz beschneiden liessen: «Die Behörden kontaktierten uns, weil der Verdacht bestand, dass das Mädchen in der Schweiz beschnitten worden war.»

Bei der Untersuchung sah die Kinder- und Jugendgynäkologin auf den ersten Blick nichts ungewöhnliches. Sie erkannte die Beschneidung nur, weil sie mit der Lupenvergrösserung (Kolposkop) danach suchte: Sie fand eine feine weisse Narbenlinie, wo die Klitoris hätte sein sollen und die inneren Schamlippen fehlten. Beide waren entfernt worden. Dass die Beschneidung nur mit Mühe und entsprechendem Equipment erkennbar ist, ist gewollt. Eine interkulturelle Dolmetscherin sagte Hürlimann: Die Beschneiderinnen und Beschneider wissen, wie man es machen muss, damit es nicht erkennbar ist.

Diese Schwierigkeit nennt auch Annette Kuhn. Die Spezialistin am Inselspital Bern sagte gegenüber dem Tagesanzeiger, dass auch ihrem geschulten Auge – je nach Typus – eine Beschneidung entgehen könnte: «Diese Manipulation kann äusserlich wie eine intakte Vagina aussehen.» Für die Strafverfolgung, die Aufklärung und Präventionsarbeit und damit den Schutz von Mädchen vor Genitalbeschneidung braucht es eine Sensibilisierung der Ärzte für das Thema.

Renate Hürlimann vom Kinderspital Zürich wünscht sich, dass Kinder- und Hausärzte mehr sensibilisiert und informiert wären, was die Beschneidung von Mädchen betrifft. Die Kinderärzte kennen die Familie meist gut und könnten viel zum Schutz der Mädchen und zur Aufklärung der Eltern beitragen. Bei den Vorsorgeuntersuchungen sollte mit Müttern aus Ländern mit kulturellem Druck für  Beschneidungen das Thema aufgegriffen werden – aber auf keinen Fall stigmatisierend. Die Eltern müssen wissen, dass es sich um eine schwere Körperverletzung handelt, die hier strafbar ist und dass es körperliche und psychische Konsequenzen für die Zukunft der Mädchen hat.

Aktivismus in der Community vor Ort

Das Thema beschäftigt aber nicht nur in der Diaspora in der Schweiz, sondern auch in den Herkunftsländern, wo die Genitalverstümmelung, je nach Land und Region, teilweise fast uneingeschränkt praktiziert wird. Daher müsse in den Ursprungsländern angesetzt und dagegen vorgegangen werden, erklärt Idah Nabateregga. «Wir müssen die Menschen vor Ort davon überzeugen, Mädchen und junge Frauen nicht mehr zu verstümmeln.» Denn wird die Beschneidung im Herkunftsland nicht mehr praktiziert, so kommt sie auch nicht mehr nach Europa.

Eine Gesprächsrunde von Save the Children in Somalia mit Teilnehmern der Gemeinschaft, religiösen Führern und Beschneiderinnen zum Thema Genitalverstümmelung.

Eine Gesprächsrunde von Save the Children in Somalia mit Teilnehmern der Gemeinschaft, religiösen Führern und Beschneiderinnen zum Thema Genitalverstümmelung.

Ganz so einfach ist das jedoch nicht, wie Ömer Güven, Geschäftsführer von Save the Children Schweiz erklärt: «Die Situation vor Ort ist, trotz Aufklärungsarbeit, nach wie vor sehr besorgniserregend». Dies weil sich die absolute Zahl der verstümmelten Frauen in Somalia nicht reduziert hat, sondern noch höher ist als noch vor einigen Jahren.

Trotzdem seien auch positive Veränderungen zu beobachten, sagt Güven weiter. Durch Projekte und die Arbeit vor Ort sei es möglich, die Menschen zu überzeugen, sich gegen die Genitalbeschneidung auszusprechen und so eine Veränderung zu bewirken. Doch dafür sei intensive Arbeit auf verschiedenen Ebenen notwendig. «Wir müssen die Menschen über die Politik, die Religion, die Gesellschaft aber auch über die persönliche und individuelle Ebene erreichen» damit so ein nachhaltiger Wertewandel stattfinden könne.

Wichtig sei dabei aber auch, dass sich lokale Behörden und Regierungen hinter die Aufklärungsarbeit stellen und die Projekte unterstützen würden. «Die Regierung von Puntland (ein international nicht anerkannter autonomer Teil Somalias, Anm. d. Red), ist sehr kooperativ eingestellt und hat sich ganz klar gegen die Mädchenbeschneidung ausgesprochen.» Dadurch könnten dann politische Veränderungen angestossen werden, welche der Verstümmelung Einhalt gebieten könnten – und zwar über die Grenzen von Somalia hinaus.

Denn die Genitalverstümmelung weltweit zu beenden und zu unterbinden, ist das Ziel vieler Organisationen und Behörden. Die UNO, die EU und die Afrikanische Union plädieren geschlossen dafür, der Beschneidung ein Ende zu setzen. In einer emotionalen Ansprache richtete sich UN Generalsekretär António Guterres an die Medien und rief zum Jahrestag gegen die Beschneidung dazu auf, global und mit verstärkten Bemühungen auf der ganzen Welt gegen die weibliche Genitalverstümmelung vorzugehen. «Wir müssen die Beschneidung beenden und die Menschenrechte dieser Frauen und Mädchen schützen.»

Die Rolle der Männer

Einen wichtigen Ansatz zum Schutz der Frauen hat auch die Kinderrechtsorganisation Save the Children mit seiner Projektarbeit vor Ort gefunden. (Mehr über die Projektarbeit vor Ort finden Sie in dieser Reportage aus Somalia.) Denn für die Überzeugungsarbeit und das Herbeiführen eines Wertewandels reiche es nicht, sich nur auf Politik und Religion zu beschränken, meint Ömer Güven.

Sie sind eine wichtige Schlüsselgruppe im Kampf gegen die Beschneidung: Die Männer.

Sie sind eine wichtige Schlüsselgruppe im Kampf gegen die Beschneidung: Die Männer.

Von zentraler Bedeutung ist auch das andere Geschlecht: die Männer. «Es sind gerade die Männer, denen eine Schlüsselposition für die Veränderung zukommt» denn viele Männer würden gar nicht wissen, was bei der Beschneidung genau passiert – und was für verheerende Konsequenzen dies auf das Leben der Mädchen und Frauen haben kann. «Viele Familienväter wissen nicht, oder werden nicht in die Entscheidung involviert, dass ihre Tochter beschnitten werden soll», erklärt Güven.

Es sei daher elementar, diese in die Aufklärung zu involvieren und die Auswirkungen zu besprechen. So könne erreicht werden, dass sich auch Männer gegen die Beschneidung der Frauen aussprechen würden oder – im Idealfall – sie nicht mehr als Voraussetzung für eine Ehe erachten.

Denn die Heirat ist ja einer der Hauptgründe für die Beschneidung. Verliert die Tradition damit an Wert, kann auch besser dagegen vorgegangen werden. Doch damit stösst man auf ein neues Problem: Werden unbeschnittene Frauen von den Männern sexuell ausgenützt?

Während der letzten Monate haben wir mehrfach von Apps gehört, die in Somalia verwendet werden, damit Männer Frauen finden können, die nicht beschnitten sind. Stark beschnittene Frauen empfinden kaum sexuelle Lust, im Gegenteil: Der Geschlechtsverkehr schmerzt und ist somit kein Genuss.

«Eine unbeschnittene Frau gilt als leichtes Mädchen»

Es mag sein, dass Männer unbeschnittene Frauen suchen, weil sie nicht wollen, dass diese leiden mussten und sich dagegen aussprechen. Doch genauso gut mag es sein, dass unbeschnittene Frauen vor allem aus dem Grund per (Dating-) App gesucht werden, weil es für Männer schöner und lustvoller ist, mit ihnen zu schlafen.

Aber «eine unbeschnittene Frau gilt in Somalia als leichtes Mädchen», sagt die bekannte Aktivistin Waris Dirie. Die jungen Frauen sind in der Gesellschaft und bei den Männern nicht viel wert. Es wird unbeschnittenen Frauen nachgesagt, dass sie ungestillte sexuelle Lust verspüren würden und gelten daher als nicht heiratsfähig. «Eine beschnittene Frau ist vielleicht zehn Kühe wert, eine unbeschnittene aber nur eine», denn unbeschnittene Frauen würden mit allen Männern mitgehen, erklärt die Ärztin Umyma El-Jelede, die in einer Klinik in Wien Verstümmelungen so gut es geht rückgängig macht.

Frauen, die in gewissen afrikanischen Ländern nicht beschnitten sind, gelten als leichte Mädchen – und sollen ungestillte sexuelle Lust verspüren.

Frauen, die in gewissen afrikanischen Ländern nicht beschnitten sind, gelten als leichte Mädchen – und sollen ungestillte sexuelle Lust verspüren.

Das führt dann auch zu der bedenklichen Tatsache, dass die HIV-Rate und die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei unbeschnittenen Frauen höher ist als bei Beschnittenen. Doch das ist kaum auf die «leichtfüssige» Lebensart von unbeschnittenen Frauen zurückzuführen, sondern vielmehr auf den Umgang und das Bild, das Männer teilweise in afrikanischen Kulturen gegenüber den Frauen haben. Damit die Genitalverstümmelung und die Stigmatisierung von unbeschnitenen Frauen eingedämmt werden kann, braucht es auch hier zuerst ein Umdenken.

Der Kampf muss sensibel geführt werden

Aufklärung und Bildung sind also Schlüssel zu einer Welt ohne weibliche Genitalverstümmelung. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass das Thema äusserst persönlich und sensibel ist. Denn es sind nicht nur die physischen Folgen der Beschneidung gravierend, sondern auch die psychischen.

Die betroffenen Frauen sind sich oft nicht bewusst, dass sie grobe Körperverletzung erlebt haben und bewerteten die Beschneidung positiv. Wenn sie dann von Ärztinnen und Ärzten, Beratungsstellen oder in der Schule mit der hiesigen Ansicht konfrontiert werden, fällt eine Welt in sich zusammen. Es kann zu Retraumatisierungen kommen.

Die Kinder- und Jugendgynäkologinnen Dr. Ruoss, Dr. Hürlimann und Dr. Fontana vom Kinderspital Zürich sind mit diesem Phänomen konfrontiert. So erzählt Dr. Ruoss: «Eine Mutter kam mit ihrer Tochter zum etwa dritten Mal zu mir. Als ich – und das zum ersten Mal – von den Folgen der Beschneidung sprach, reagierte die Mutter stark. Sie musste sich hinlegen. Irgendwie brauchte es eine Weile, bis sich die neue Information setzt und wirklich ankommt.» Vermutlich sind bei der Mutter Erinnerungen an die eigene oder an die Schmerzen und Schreie ihrer Tochter bei ihrer Beschneidung wachgerufen worden. Das wiegt schwer.

Deshalb gilt es behutsam vorzugehen. Das ist Elke Krause, Spezialistin am Inselspital Bern, ein grosses Anliegen. Eine Patientin habe ihr erzählt, dass bei ihr in der Klasse zwei Mädchen mit grosser Wahrscheinlichkeit beschnitten seien. Als eine externe Aufklärungsdelegation das Thema aufgriff, konnte sie sehen und spüren, wie unwohl und ausgeschlossen sich die zwei Mädchen fühlten. Renate Hürlimann vom Kinderspital Zürich ist ebenfalls der Meinung, dass das Thema am besten unter vier Augen thematisiert wird.

Und auch der medialen Berichterstattung kommt eine gewisse Verantwortung zu, nicht zur Stigmatisierung Betroffener beizutragen und so deren Leiden noch zusätzlich zu verstärken.

Viel wichtiger ist es, sachlich über die Thematik zu berichten, Schwierigkeiten hervorzuheben und Verständnis zu fördern. Das war zumindest das Ziel dieses Beitrags.


Eine Produktion von CH Media Storytelling

Publiziert am 06. Februar 2020

Autoren: Kevin Capellini und Mona Martin

Editierung: Tabea Buri und Marc Purtschert

Konzept und Umsetzung: Kevin Capellini

Bilder: Severin Bigler, Jean-Marc Bouju, David Signer, Kim Manresa, Rebecca Blackwell, Ahmed Abo El-Azm, Save the Children, Encyclopædia Britannica, Castle Leslie Estate und Keystone

Musik: Premium Beat by Shutterstock

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